Gedanken für den Tag: "Wider die Kränkung" -
Wider die Kränkung - Teil 1.mp3
Montag, 11. April 2016, 06:56 Uhr
von Reinhard Haller, Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe.
Gestaltung: Alexandra Mantler
Kränkung - einer der wichtigsten psychologischen Begriffe, einer der
bedeutendsten zwischenmenschlichen Abläufe, eines der meist tabuisierten
gesellschaftlichen Themen. Nichts berührt uns so vielfältig, nichts wird
so verdrängt. Wir tun uns schwer, sie zu beschreiben, unsere Kränkungen.
Sie sind nicht so dramatisch wie Zorn und Wut, nicht so leicht erkennbar
wie Traumen oder Depressionen. Sie wirken wie kleine Stiche und
verlaufen wie schwelende Prozesse. Und dennoch entfalten sie ein enormes
zerstörerisches Potential.
Was kränkt macht krank, hat bereits Hildegard von Bingen gemeint.
Kränkungen führten zu Krankheiten und Krisen, zu Kriminalität, ja zu
Kriegen. Sie treffen uns im Innersten, sie greifen unsere Selbstachtung
und unser Ehrgefühl an. Kränkungen führen zu einer nachhaltigen
Erschütterung unserer Werte, vor allem des Selbstwertes. Immer haben sie
einen destruktiven Charakter, verletzen den Gerechtigkeitssinn und rufen
Enttäuschungen hervor. Ihre Wirkung können Kränkungen aber nur
entfalten, wenn sie in uns eine sensible Stelle berühren, einen Wert
oder eine innere Wunde treffen. Ausgelöst werden sie letztlich stets
durch die Urangst vor Liebesmangel, Liebesentzug oder
Liebeszurückweisung, durch fehlende Positivresonanz.
Noch nie wurden Geringschätzung, Entwertung und Kränkung so sehr
verdrängt und tabuisiert wie in unserer modernen Zeit. Das
Kränkungsthema passt nicht zum Bild des bestens funktionierenden
Menschen und des durchorganisierten Lebens. Wenn wir aber genau
hinsehen, erkennen wir hinter der in unserer Gesellschaft so
verbreiteten Maske der Coolness, der Unverletzbarkeit und Makellosigkeit
das, was den Charakter des Menschen mehr denn je prägt: Er ist - und
darauf könnten wir heute besonders achten - ein gekränktes und
kränkendes Wesen.
Bücher:
Reinhard Haller, "Die Macht der Kränkung", Ecowin Verlag
Reinhard Haller, "Die Narzissmusfalle: Anleitung zur Menschen- und
Selbstkenntnis", Ecowin Verlag
Reinhard Haller, "Das ganz normale Böse", Ecowin Verlag
Reinhard Haller, "(Un)glück der Sucht. Wie sie ihre Abhängigkeit
besiegen", Ecowin Verlag
Reinhard Haller, "Die Seele des Verbrechers. Motive, Impulse,
Lebensbilder", Residenz-Verlag
Reinhard Haller, "Selbstmord. Verzweifeln am Leben?" Hannibal-Verlag
Gedanken für den Tag: "Wider die Kränkung" -
Wider die Kränkung - Teil 2.mp3
Dienstag, 12. April 2016, 06:56 Uhr
von Reinhard Haller, Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe.
Gestaltung: Alexandra Mantler
Der Mensch als kränkendes und gekränktes Wesen
"Man kann nicht nicht kränken und nur schwer nicht gekränkt sein",
könnte man in Abwandlung eines berühmten Wortes des aus Österreich
stammenden Kommunikationswissenschaftlers und Psychotherapeuten Paul
Watzlawick sagen. Und William Shakespeare hat seine rhetorische Frage:
"Wer lebt, der nicht gekränkt ist oder kränkt?" selbst ganz eindeutig
beantwortet: Niemand. Vor Kränkungen bleibt kein Mensch verschont,
keiner kann ihnen entrinnen, jeder wird täglich mit ihnen konfrontiert.
Sie erfolgen offen und versteckt, teils mit Absicht, manchmal unbewusst,
sind im Leben universell verbreitet und stellen das wahrscheinlich
größte zwischenmenschliche Problem dar.
Die Vielfalt menschlicher Persönlichkeiten lässt sich anhand der beiden
Merkmale "kränkend" und kränkbar einteilen. Manche Menschen, die
Narzissten, verhalten sich rücksichtslos und entwertend, sind selbst
aber extrem empfindlich. Hochsensible Persönlichkeiten, im Zeitalter von
Stress und Multitasking ja immer häufiger, sind sehr verletzlich, können
sich aber gut in den Mitmenschen hineinfühlen.
Wieder anderen fehlt es an beidem, sie spüren die
Kränkungsgrenze weder bei sich noch beim Nächsten.
Wir nennen sie Psychopathen.
Das Ringen um die eigene Persönlichkeit ist in vielem ein Kampf mit
Kränkungen. Mit den großen Umbrüchen des Lebens, vom Geburtsschock bis
zur Unfassbarkeit des Todes reichend, sind zwangsläufig Kränkungen
verbunden. Niemand kann sich Kränkungen entziehen. Wer aber an ihnen
nicht scheitert, geht gestärkt und erfahren daraus hervor. Durch nichts
wird die Selbsterkenntnis mehr gefördert als durch Achtung auf seine
sensiblen Stellen, auf all das, was mir wichtig ist. Und nichts fördert
die Menschenkenntnis mehr als das behutsame Erfühlen der Kränkungsgrenze
des Mitmenschen.
Wäre das nicht etwas für den heutigen Tag?
Gedanken für den Tag: "Wider die Kränkung" -
Wider die Kränkung - Teil 3.mp3
Mittwoch, 13. April 2016, 06:56 Uhr
von Reinhard Haller, Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe.
Gestaltung: Alexandra Mantler
Schweigen
"Reden ist Silber - Schweigen ist Gold". Über Generationen hinweg war
dieses Sprichwort Orientierung für gute Erziehung, Leitsatz der
Persönlichkeitsbildung und Richtlinie für taktvolles Verhalten.
Schweigen sah man als vornehm und tugendhaft an, als klug und überlegen,
als Ausdruck von Rücksichtnahme und Selbstkontrolle. Schweigeübungen
galten als bestes Psychotraining und Schweigeorden als die
gottgefälligsten überhaupt. Über alles zu reden, die Dinge beim Namen zu
nennen, Tabus anzusprechen und überhaupt seine Meinung kundzutun, war
verpönt. Schwatzhaftigkeit wurde gleich zur schlechten und, wie könnte
es denn anders sein, zur weiblichen Eigenschaft erklärt.
Schweigen hat aber auch andere Seiten, und zwar jene der Kränkung in
beide Richtungen. Schweigen ist aktives Kränken und passives
Gekränktsein zugleich. Mit Schweigen soll die eigene Verletztheit zum
Ausdruck gebracht und zugleich signalisiert werden, dass der andere kein
Wort mehr wert ist. Die Angeschwiegenen fühlen sich entwertet, weil man
ihnen den Mund nicht gönnt. Sie sehen sich in einer hilflosen Position,
da Schweigen nicht einmal eine Analyse, geschweige denn eine Lösung der
Probleme zulässt. Schweigen kann, so paradox es klingt, eine sehr
aggressive Verhaltensweise sein.
Wenn Reden die Menschen zusammenbringt, heißt dies, dass sie das
Schweigen voneinander trennt. Und wenn die Psychotherapie dadurch wirkt,
dass sie Verschwiegenes und Unsägliches zur Sprache bringt, rückt dies
die alte Tugend in ein neues Licht. Vielleicht sollten wir deshalb in
einer Gesellschaft, in der die Unfähigkeit zum Dialog die Lösung so
vieler Probleme verhindert, das anfangs zitierte Sprichwort
weiterentwickeln. Es könnte lauten: "Schweigen ist
manchmal Silber, miteinander reden aber immer Gold".
Gedanken für den Tag: "Wider die Kränkung" -
Wider die Kränkung - Teil 4.mp3
Donnerstag, 14. April 2016, 06:56 Uhr
von Reinhard Haller, Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe.
Gestaltung: Alexandra Mantler
Angst
In der Psychotherapie können wir eine paradoxe Entwicklung beobachten:
In einer auf höchste Sicherheit bedachten, gegen jedes Unbill
abgesicherten Gesellschaft nimmt das Gefühl der Unsicherheit, die Angst,
enorm zu. Über 20 Prozent unserer Bevölkerung sind davon betroffen. So
ist es kein Zufall, dass angstlösende Medikamente, sogenannte
Anxiolytika, zu den umsatzstärksten Arzneigruppen überhaupt gehören. Da
fragt man sich, ob denn Angst tatsächlich nur etwas Negatives und
Krankmachendes ist oder nicht auch andere Funktionen hat.
Bei sachlicher Betrachtung ist Angst ein zu den instinktiven
Grundausstattungen der Lebewesen gehörendes Urgefühl. Die Angst warnt
uns vor Bedrohung, bereitet uns auf Schwierigkeiten vor, mobilisiert
alle verfügbaren Ressourcen, ja sie sichert unser Überleben. Zahlreiche
Untersuchungen belegen, dass im Menschen- und Tierreich nicht die
unerschrockenen und mutigen, sondern die vorsichtigen und ängstlichen
überleben. Hat doch Alfred Kubin zu seinem Analytiker gesagt: "Nehmen
sie mir um Himmelswillen meine Angst nicht, sie ist mein größtes
Kapital".
Angst kann allerdings auch krank machen. Wenn das Gefühl der
Ängstlichkeit überhandnimmt, die Angstreaktion schon bei Kleinigkeiten
einsetzt, wenn eine Angstattacke die Nächste jagt und das ganze
Lebensgefühl vom Schatten der Angst bestimmt wird, ja wenn man selbst
Angst vor der Angst hat, ist das neutrale Gefühl zu einer
schwerwiegenden Krankheit ausgewachsen.
Unser Umgang mit der Angst soll nicht auf Angstfreiheit abzielen. Es
geht vielmehr um die rechte Einstellung und die
richtige Angstdosis, sodass wir in der Lage sind, unsere Ängste
zu beherrschen und wieder Herr oder Frau im eigenen Haus zu sein.
Verwandeln wir doch den reißenden Wolf, der die Seele auffrisst, in
einen aufmerksamen, gutmütigen Wachhund!
Gedanken für den Tag: "Wider die Kränkung" -
Wider die Kränkung - Teil 5.mp3
Freitag, 15. April 2016, 06:56 Uhr
von Reinhard Haller, Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe.
Gestaltung: Alexandra Mantler
Gelassenheit
Sucht man bei den sich voneinander oft scharf abgrenzenden
Psychotherapieschulen nach Gemeinsamkeiten, wird man in einem Punkt
fündig: Sie alle wollen ihre Patienten zur Gelassenheit befähigen. Auch
die von den Religionen angestrebten Tugenden wie Mäßigung oder Sanftmut
meinen nichts anderes als Gelassenheit. Sie gilt als erstrebenswerteste
Fähigkeit zur Bewältigung der Lebensprobleme. Kann, ja darf man heut
angesichts der Terroranschläge, des Flüchtlingselendes, der Kriege und
Hungersnöte, der sozialen Ungerechtigkeiten und der Umweltzerstörung
aber überhaupt noch gelassen sein?
Richtige Gelassenheit heißt nicht, Probleme zu verdrängen und Sorgen
nicht ernst zu nehmen. Vielmehr wird sich der gelassene Mensch nicht von
momentanen Stimmungen treiben und vom Eifer verzehren lassen. Den
Gelassenen kann kein Affekt blind und keine Kränkungen krank machen. Er
kann sich über brodelnden Emotionen stellen und einen im wahrsten Sinn
des Wortes erhabenen Standpunkt einnehmen. Dadurch wird der Blick
schärfer und das Denken klarer. So betrachtet, sollten wir nicht trotz,
sondern wegen der vielen Probleme gelassen sein.
Von Marie von Ebner-Eschenbach als anmutigste Form des
Selbstbewusstseins bezeichnet, hat Gelassenheit nichts mit
Gleichgültigkeit, sondern mit Loslassen zu tun. Man kann sie nicht
erlernen, aber sich als Haltung aneignen. Der Weg dahin ist ein langer
Prozess, dessen Ziel wir nur in alltäglichen kleinen Schritten erreichen
können.
Nehmen wir uns ein Beispiel bei Papst Johannes dem XXIII., der
Personifizierung gütiger Gelassenheit. Als er einmal aus Sorge um den
Weltfrieden nächtelang gegrübelt habe und mutlos geworden sei, hörte er
eine Stimme von oben: "Johannes, nimm dich nicht so wichtig, ich bin ja
auch noch da."
Gedanken für den Tag: "Wider die Kränkung" -
Wider die Kränkung - Teil 6.mp3
Samstag, 16. April 2016, 06:56 Uhr
von Reinhard Haller, Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe.
Gestaltung: Alexandra Mantler
Empathie
Stephen Hawking, der im Rollstuhl lebende britische Kosmologe und
Astrophysiker, hat in einem bilanzierenden Interview gemeint, die
Zukunft der Menschheit hänge davon ab, ob sie die Empathie, das
mitmenschliche Einfühlungsvermögen, bewahren könne. Während die für den
Höhlenmenschen wichtige Aggression nun die Zivilisation zu vernichten
drohe, bringe allein deren Gegenspieler, die Empathie, die Menschen in
einen friedlichen Zustand.
Mit Empathie ist die Fähigkeit gemeint, Gefühle und Gedanken anderer zu
erkennen und sich darauf einzulassen. Man fühlt, wie der andere fühlt
und denkt mit seinen Gedanken. Dieses "im anderen Leiden" - wie die
wörtliche Übersetzung lautet - ist eine nur dem Menschen vorbehaltene
Eigenschaft, die ihn von Tier und Maschine unterscheidet, auch vom
alleskönnenden Computer.
Empathie spielt in Pädagogik, Psychologie und Medizin, in Religion,
Politik und Kriminalistik, ja selbst im Marketing und Management eine
herausragende Rolle. Sie ist die Basis menschlichen Kommunizierens. Ohne
Empathie gibt es keine emotionale Intelligenz und keine praktische
Ethik. Was macht den Menschen zum Kriminellen, was zum Tyrannen und was
zum Psychopathen? Es ist die fehlende Empathie.
Die Bedeutung der Empathie ist in vielen Weisheiten auf den Punkt
gebracht. "Du musst zuerst zwei Monde in den Schuhen des anderen
gewandert sein, um ihn zu verstehen", heißt ein indianisches Sprichwort.
Am eindrucksvollsten finden wir alles, was es zum Wesen der Empathie zu
sagen gibt, in der in verschiedenen religiösen Texten enthaltenen
goldenen Regel. In negativer Fassung lautet sie: "Was du nicht willst,
dass man dir es tu, das füg auch keinem anderen zu." In positiver Form
finden wir sie bei Matthäus 7,12: "Behandle andere so, wie du von ihnen
behandelt werden willst".
Vielleicht auch am heutigen Tag.
http://www.vorarlbergernachrichten.at/abend/2015/10/23/die-explosive-macht-einer-emotion.vn
VN-INTERVIEW. Reinhard Haller (64) über gekränkte
Eitelkeiten und den Schmetterlingseffekt
Die explosive Macht einer Emotion
Primar Reinhard Haller findet auch in seinem neuen Buch klare Worte.
Mit seinem neuen Buch will der Psychiater und Psychotherapeut
aufrütteln.
SCHWARZACH. (VN-mm) Seine schlimmste Kränkung erlebte Reinhard Haller
als Internatsschüler. Dass ihn die Kameraden wegen seines Wälder
Dialekts auslachten, kränkte ihn bis aufs Blut und sitzt heute noch
tief. Doch inzwischen kann der Psychiater und Psychotherapeut damit
umgehen. Viele andere schaffen das nicht. Mit seinem neuen Buch "Die
Macht der Kränkung" will er den Mantel des Tabus von einem Thema reißen,
das schon viel Unglück beschert hat.
Ist Schreiben für Sie Qual, Lust oder so etwas wie ein Auftrag?
HALLER: Im Grunde ist Schreiben mein Hobby. Für mein aktuelles Buch habe
ich den Sommerurlaub verwendet. Das war genauso erholsam wie am
Mittelmeer.
Sie sind in Ihrem Beruf mit vielen Verbrechen konfrontiert. Ist
Schreiben auch eine Art der Verarbeitung?
HALLER: Absolut. Der Gedanke, über dieses Thema zu schreiben, ließ mich
seit der Beschäftigung mit Franz Fuchs, dem Bombenhirn, nicht mehr los.
Fuchs war für mich nichts anderes als ein extrem gekränktes Genie. Ich
habe festgestellt, dass Kränkungen eine unglaubliche Rolle spielen,
obwohl sie immer noch tabuisiert werden. Man sagt vielleicht ‚ich bin
beleidigt‘, aber nie ‚ich bin gekränkt‘. Auch bei meinen Patienten habe
ich gesehen, dass fast alle an nicht verarbeiteten Kränkungen litten,
die sie mit Alkohol betäubten.
Welche Folgen können Kränkungen noch zeitigen?
HALLER: Mindestens zwei Drittel der Verbrechen resultieren aus
Kränkungen. In der Politik sind Kränkungen ebenfalls ein großes Problem,
wenngleich Politiker das meist anders sehen. Ich glaube, dass viele
Entscheidungen in Österreich nicht getroffen werden aus Angst, man
könnte eine Personengruppe kränken. Es wurden auch zahlreiche Kriege
ausschließlich durch Kränkungen ausgelöst. So lassen sich Kränkungen
durch alle Ebenen hindurch verfolgen. Nur werden sie bei uns verdrängt.
Kann jemand auch nicht gekränkt sein?
HALLER: Das kann durchaus sein. Aber es ist eine hohe Kunst, eine
gewisse Gelassenheit und Souveränität zu entwickeln und mit Kränkungen
so umzugehen, dass sie nichts anrichten.
Wie definiert sich Kränkung?
HALLER: Das ist das Problem. Jeder weiß, was damit gemeint ist, doch
keiner kann es beschreiben. Auch Philosophen haben sich um das Thema
gedrückt. Die Theologie gibt ebenfalls keine Antwort darauf. Selbst in
der Ausbildung zum Arzt und Psychiater habe ich nie etwas von Kränkung
gehört. Vermutlich deshalb, weil es kein wissenschaftlicher Begriff ist
und jeder Mensch anders reagiert. Manche Leute sind schon gekränkt, wenn
sie schief angesehen werden.
Ihr Buch soll kein Ratgeber sein. Was wollen Sie dann damit bezwecken?
HALLER: Ich möchte sensibilisieren, bewusst machen, dass jeder ein
kränkbares Wesen ist, man selbst auch kränkbar ist und dazu stehen soll.
Ich bin überzeugt, dass es kein besseres
Emotionstraining gibt, als darauf zu achten, wo die Kränkungsgrenze des
anderen und wo meine eigene liegt. Kränkungen tun oft jenen am meisten weh, von denen wir es nicht erwartet
hätten. So lerne ich bei anderen eine neue Seite und gleichzeitig meine
eigenen Schwachstellen kennen.
Sie sagen, Kränkungen können oft weit zurückliegen, ehe sie explodieren.
HALLER: Ich habe vor Jahren in Deutschland einen Amokläufer untersucht,
der eines der größten Attentate beging. Als Grund dafür gab er an, dass
bei einer Klassenfahrt vor acht Jahren niemand mit ihm im Doppelzimmer
schlafen wollte. Das kränkte und beschäftigte ihn so sehr, dass er
schließlich Amok gelaufen ist. Der Fall zeigt, wie Kränkungen sich nach
dem Schmetterlingseffekt entfalten können. So wie ein Flügelschlag in
Brasilien einen Wirbelsturm in Texas auslösen kann.
Was unterscheidet eine Kränkung von einer Beleidigung?
HALLER: Die Beleidigung ist sozusagen die offiziell anerkannte Kränkung.
Worin liegt das große Problem von Kränkungen?
HALLER: Dass sie nicht angesprochen werden. Dann beginnen sie zu
wuchern, und es entstehen negative Fantasien.
Und was hilft?
HALLER: Zu eruieren, was es ist und darüber zu reden. Das erfordert Mut.
Natürlich muss auch der Umgang mit Kränkungen vermittelt werden.
Letztlich kann aber nur jede/r selbst bestimmen, was er/sie als Kränkung
empfindet. Aus dem heraus muss man die Lufthoheit über die Kränkung
gewinnen. Dann sieht man sie zwar, lässt sich aber nicht mehr von ihr
niederdrücken. Kränkung ist also auch etwas, das in der
Persönlichkeitsentwicklung hilft. Man wird zum Beherrscher und ist nicht
mehr Beherrschter.
Reinhard Haller: Die Macht der Kränkung; Verlag ecowin, 248 Seiten,
Preis: 21,95
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